Tanja Elisa Glinsner

© Theresa Pewal

Tanja Elisa Glinsner – Gewinnerin des
Ö1 Talentebörse-Kompositionspreises 2020


Siegerin des Ö1 Talentebörse-Kompositionspreises 2020 ist „unsere“ Komponistin Tanja Elisa Glinsner von der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Die Nachwuchs-Förderung ist mit 10.000 Euro dotiert und wird von der Oesterreichischen Nationalbank unterstützt.


Die 1995 in Linz geborene Tanja Elisa Glinsner studiert derzeit gleich mehrere Fächer: Dirigieren, Gesang und Komposition. 2018 konnte sie den ersten österreichischen Komponistinnenpreis für sich entscheiden.

In der Begründung der Fachjury, die am 23. Juni 2020 tagte, heißt es: „Hervorstechend ist Glinsners fantasievoller Umgang mit Klangfarben, bemerkenswert auch ihre Vielseitigkeit und Vielfalt in unterschiedlichen kompositorischen Genres jeweils auf hohem handwerklichem Niveau. Leichtigkeit der Musiksprache und Praxisbezug in der kompositorischen Umsetzung zeichnen die eingereichten Kompositionen aus.“

Glinsners Stück „Scena di Medea“ wurde in der Jury-Diskussion von mehreren Juroren als besonders überzeugend genannt. 
Die Komponistin hat für uns dieses sehr persönliche Porträt verfasst.

Was hat mich zum Komponieren geführt?

Als kleines Mädchen – ich war sechs Jahre alt, als mein musikalischer Weg begann – fing ich mit großer Begeisterung an eine Vielzahl von Instrumenten zu entdecken. Den Anfang machte die Geige, mit der mich meine musikalische Früherzieherin bekannt gemacht hatte, kurz darauf folgten Akkordeon, Saxophon und Klavier, die ich alle an der Musikschule meines Heimatortes in Oberösterreich erlernte. Das gab mir die Möglichkeit, ein musikalisches Grundverständnis zu erlangen, das verschiedene Aspekte umfasste, und diese Annäherung von mehreren Seiten faszinierte mich und trieb mich an. Meine Mutter meint heute manchmal scherzhaft, meine Instrumente mit ihren verschiedenen „Persönlichkeiten“ seien damals meine Freunde gewesen, woran sicherlich etwas Wahres ist, denn diese geheimnisvolle Welt interessierte mich tatsächlich mehr als die Kinder meines Alters.

Selbstverständlich improvisierte ich auch mit Genuss, besonders am Klavier – in meiner Erinnerung waren es boogie-artige Stückchen – und entwickelte irgendwann den Ehrgeiz, auch etwas davon niederschreiben zu können. Natürlich fehlte mir damals das notationstechnische Handwerkszeug, sodass ich vorerst nur kleine Melodiefragmente einfangen konnte. Ich ließ mich allerdings nicht beirren und machte die fehlenden Mittel durch Begeisterung und Originalität wett, denn ich schnitt die einzelnen, von mir als gut befundenen Notate aus und fügte sie unter Verwendung eines Klebestiftes so zusammen, dass sich daraus ein Musikstück ergeben sollte.

Als ich circa zehn Jahre alt war, bekam ich eine einfache Notationssoftware in die Hände, die mich sehr faszinierte und zum Experimentieren anregte. Natürlich nutzte ich sehr gerne die Möglichkeit, mir die geschriebenen Noten vom Computer vorspielen zu lassen, was mich vorerst in eine gewisse Abhängigkeit versetzte, war ich doch so zunächst der Aufgabe entbunden, meine Klangvorstellung zu entwickeln. Nichtsdestotrotz hielt es meine Begeisterung am Leben und meine Musikalität schulte sich an prägenden Erlebnissen, die ich beim Musizieren in Ensemble- und Orchesterbesetzungen haben durfte, deren Höhepunkte später (mit etwa 16) das Geigenspiel im OÖ Jugendsymphonieorchester und dem Orchester der Bruckneruniversität waren, wo ich Werke wie die 9. Symphonie von Beethoven, Tschaikowskis „Romeo und Julia“ und Symphonien von Bruckner und Mahler erfahren durfte. Allerdings gab es auch weniger „hochkulturelle“ Erlebnisse, die rückwirkend wichtig für mich waren, denn durch meine ländliche Umgebung und mein Saxophonspiel kam ich natürlich in Kontakt mit der Blasmusik. Ich war fünf Jahre lang aktives Mitglied in der örtlichen Blaskapelle und machte mit dreizehn in diesem Kontext sogar einen Kapellmeisterkurs.

Mit vierzehn war ich als Geigerin in die Akademie der Begabtenförderung an der Anton Bruckner Privatuniversität aufgenommen worden und es ergab sich die Möglichkeit, dort auch Unterricht in Komposition zu erhalten. So kam ich in die Klasse von Prof. Erland Maria Freudenthaler, der mich in meiner Experimentierfreude sehr ermutigte und mich nachhaltig beeinflusste. Nach meiner Matura am Akademischen Gymnasium in Linz setzte ich mein Kompositionsstudium an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien bei Wolfgang Suppan, Dietmar Schermann und Michael Jarrell fort und plane es, ebenso wie mein Gesangspädagogikstudium, nächstes Jahr abzuschließen. Parallel dazu begann ich 2013 mein Dirigierstudium an der Anton Bruckner Privatuniversität Linz bei Prof. Ingo Ingensand, welches ich nun bei Prof. Mark Stringer an der MDW fortsetze. Doch es gibt noch einen weiteren wesentlichen Strang in meinem musikalischen Werdegang, nämlich den Gesang. Nach frühen Chorerfahrungen erhielt ich mit sechzehn den ersten Gesangsunterricht bei Prof. Rannveig Braga-Postl und begann infolgedessen ein Konzertfach-Studium an der MDW, welches ich nun in der Klasse von Prof. Gabriele Lechner fortsetzen darf.

Wodurch werde ich inspiriert?

Durch alltägliche Ereignisse genauso wie durch Stimmungen in der Natur, ganz besonders durch persönliche Erlebnisse, die „emotionale Umbrüche“ darstellen. Durch die Vorstellung der Konzertsituation, durch den Gedanken daran, was ich dem Publikum mitgeben möchte und kann, aber auch, was ich den Musikern geben kann, die meine Musik umsetzen und interpretieren.

Es sind auch noch grundsätzlichere Fragen, die während des Schaffensprozesses in meinem Kopf herumschwirren:

  • Was kann Kunst uns geben?
  • Was kann sie uns geben, das nichts anderes als sie uns geben kann?
  • Eine Hoffnung, die über sie selbst hinausweist? Was ist das, worauf sie verweist? Existiert es? (Ich bin ja der Überzeugung, dass Musik nicht lügt, sodass alles durch sie Implizierte real sein muss…)

Solche Fragen inspirieren mich und leiten mich durch den Kompositionsprozess.

Ich trage sie mir oft auch bewusst in die noch leere Partitur ein, um mich daran festzuhalten, um die Stimmungen, Emotionen und Spannungsverhältnisse, die sie in mir auslösen, erforschen und auf das Papier übertragen zu können. Der nächste Schritt sind dann oftmals graphische Skizzen, welche eine Abfolge von ebenjenen Spannungszuständen in verschiedenen Farben wiedergeben, um anschließend in einen Notentext „übersetzt“ zu werden.

Was weckt im Außen mein Interesse?

Was an mich herantritt und mein Interesse einfordert. Im Gespräch, aber auch in der reinen Beobachtung der Interaktionen und Stimmungen anderer Menschen. Wie nehme ich es wahr, was macht es mit mir? Gespräche sind zweischneidig. Einerseits entwickelt sich in ihnen ein Interesse, andererseits bergen sie das gefährliche Potenzial, Themen ihres emotionalen Gehaltes zu entledigen, sie zu „zerreden“. Eine Aussage, die zu offen liegt und jedem zugänglich ist, nachdem man sie zu sehr veräußert hat, verliert an Kraft und Authentizität. Letztlich sollte Musik doch immer nur für sich sprechen. Der Komponist, die Komponistin drückt sich zwar durch sie aus, aber dieser Ausdruck ist ebenso eine Momentaufnahme eines bestimmten Lebensabschnitts, eines bestimmten „Ichs“ zu einem bestimmten Zeitpunkt. Irgendwann stimmt sie nicht mehr mit der Person des Komponisten/der Komponistin überein, sondern beginnt für sich zu stehen bzw. versucht, für sich stehen zu können. Es ist jedoch von ganz verschiedenen Aspekten abhängig, ob sie dies auch wirklich kann. Ab einem bestimmten Zeitpunkt spricht sie nur noch für sich selbst, nicht mehr für mich, sondern für ein früheres Selbst. Dieser Momentaufnahme gebührt allerdings meinerseits Respekt. Daher ist die Offenlegung der emotional tiefergehenden Fragen anderen gegenüber während des Kompositionsvorgangs so gefährlich. Sie würde die Musik, die daraus resultiert, für mich subjektiv völlig entwerten und zu einer Nichtigkeit degradieren, da ihr Gehalt, ihr Hintergrund und infolgedessen sie selbst verraten worden war. Diese Fragen arbeiten in einem weiter und sind – so meine Meinung – wesentlich für die resultierenden Spannungsverläufe der Komposition.

Es lässt sich also zusammenfassen, dass mein Kompositionsprozess mich oftmals ausgehend von den oben erwähnten Fragestellungen über die Grafik, neben der zeitgleichen Ausarbeitung eines übergeordneten Konzepts, hin zur eigentlichen Komposition führt. Das übergeordnete Konzept hingegen ändert sich von Stück zu Stück – wodurch der kompositorische Zugang jedes Mal ein neuer ist. (Z.B. Klangcollagen, Inspiration durch Gedichte, Texte, Zeitungsartikel, Musik, Bildende Kunst) Das Zusammenspiel zwischen dem gedanklichen Hintergrund, welcher auf den zu Beginn gestellten Fragen beruht, und dem individuellen Konzept des jeweiligen Stückes, stellt für mich den Reiz am Komponieren dar.

Welches meiner Werke hat mich nachhaltig beeinflusst?

Eindeutig die Arbeit an meiner „Scena di Medea“. Hierbei handelt es sich um ein Auftragswerk der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien, die Idee dazu stammte von der Violistin Nora Romanoff-Schwarzberg. Die Uraufführung war für das Konzert „Schicksal? Entscheidung! Antike Heldinnen“ am 10. März 2020 im Gläsernen Saal des Wiener Musikvereins mit Caroline Peters in der Rolle der Medea geplant. Leider musste das Konzert aufgrund der coronabedingten Einschränkungen des Kulturbetriebes abgesagt werden. Es handelte sich um den ersten von Absagen betroffenen Abend in Österreich. Die vorgegebene Idee der Ausschreibung war, ein Werk für Streichquintett und Sprecherin, welches auf dem Drama „Medea“ von Grillparzer basiert, zu schreiben. Meine Arbeit an der Komposition begann im Juli 2019 und endete im Februar 2020, in welchem intensive Proben für das Werk stattfanden. Es war eine sehr schöne und lohnende Zusammenarbeit mit den Musikern, in der ich für mich als Dirigentin sehr viel mitnehmen konnte. Es war für mich natürlich ein großer Schock, als am Tag der geplanten Aufführung, keine zwei Stunden nach einer gelungenen Generalprobe, die Nachricht kam, dass das Konzert abgesagt werden sollte. Ein 500-stündiger Kompositionsprozess zuzüglich eines intensiven musikalischen und menschlichen Austauschs mit den Ensemblemusikerinnen lag hinter mir, enorme organisatorische Hindernisse, die Schlagwerkinstrumente zu organisieren, das Bangen, ob das Stück tatsächlich so umsetzbar sein würde, wie ich es notiert hatte. Ich hatte – aus einem besonderen Bauchgefühl heraus – die Generalprobe mit fünferlei Geräten mitgeschnitten. Davon hatte anschließend nur eine Aufnahme überlebt, da vier der fünf Geräte entweder aufgrund des Akkus oder fehlender Speicherkapazität nicht durchgehalten hatten. Diese eine Aufnahme reichte ich neben zwei weiteren Werken bei der Ö1-Talentebörse ein und sie war –so die Aussage der Jury – entscheidend für den Erhalt des Preises. Da dieses Werk mich derartig beeinflusst hat und ich eine ganz besondere Zeit mit ihm durchgestanden habe, habe ich mich entschlossen, die Komposition, mit welcher ich nun von Ö1 und der Österreichischen Nationalbank beauftragt worden bin und welches vom Verlag Doblinger aufgenommen werden wird, in direkten Zusammenhang mit meiner „Scena di Medea“ zu stellen. Der Titel des neuen Werks wird „Chrysomeles – ein Mythos in vier Bildern“ lauten und soll sich mit besagter mythologischer Figur befassen. Die Besetzung wird Violine, Viola, Cello, Klavier und Schlagwerk umfassen und auch dadurch eine Brücke zur „Scena di Medea“ schlagen.

Als wichtige Inspirationsquellen dienten mir unter anderem „Die Geburt der Tragödie“ von Friedrich Nietzsche und die Ideenlehre Platons. Bei Chrysomeles handelt es sich um den Sohn des Poseidon und der Thrakerin Teophano, welcher als Widder mit goldenem Fell geboren wurde, das später als das goldene Vlies in weitere Sagenkreise einging. Jason stahl jenes wiederum, als er in Kolchis eindrang, den Bruder ermordete und Medea verschleppte, um diese zu seiner Frau zu machen. Dem Vlies wurden magische Fähigkeiten zugeschrieben, es war das Heiligtum des Stammes um Kolchis gewesen und Medea die Zauberin, die Älteste, welche es behütete und damit rituellen Stammesbräuchen nachging. Als Chrysomeles dem Ares – dem Kriegsgott – zum Opfer dargebracht wird, hinterlässt das goldene Vlies eine ewige Blutspur und fordert viele Tote. Der erste Satz meines Werkes wird sich mit der Geburt des Chrysomeles – der Geburt eines Mythos – befassen. Als Andeutung des Funkens, der das promethische Feuer entzündet, wird ein Streichholz und der Klang von dessen Entzündung eine Rolle spielen. Eine Metapher für die Geburt des Menschen, für die Idee der Entstehung einer Seele, explizit des Geistes des Chrysomeles. Im zweiten Satz wird er als Sohn des Poseidon, des Gottes der Meere, betrachtet werden, wohingegen der dritte Satz sich mit der Thematik des Rituals im Zusammenhang mit dem goldenen Vlies beschäftigt.

Der vierte Satz stellt die Hinrichtung des Chrysomeles und damit seine Verarbeitung zum rituellen Objekt dar – den brutalen Akt, der es gleichsam mit einem Fluch belädt. Ebendiese Brutalität der Schlachtung gleicht der grausamen Behandlung und Verurteilung der Medea durch die Gesellschaft, dem Verrat durch Jason und in weiterer Folge der Brutalität der ihre Kinder schlachtenden Medea selbst, die einen Akt der absoluten Selbstverleugnung darstellt. Auch der Charakter der Musik leitet daher zur punktuellen Expressivität der „Scena di Medea“ über. Dies führt unter anderem zur Kombinierbarkeit von „Chrysomeles“ und „Scena di Medea“ innerhalb eines Konzertprogramms. Das erstgenannte Werk eröffnet einen mythologischen Raum, wird in seiner Klangsprache dessen Weite und Freiheit zeichnen und zum Verweilen und Schwelgen zwischen Traum und Wirklichkeit einladen. „Scena di Medea“ hingegen zeichnet sich vor diesem Hintergrund als konkret und expressiv ab, fokussiert ihre leidvolle Geschichte zwischen Wirklichkeit und Wahnsinn.